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Jubiläum

„Neue Probleme brauchen neue Lösungsansätze"

Maik Winter
Quelle:
RWU
Am 1. Dezember feierte Professor Dr. Maik Hans-Joachim Winter sein 25-jähriges Dienstjubiläum im öffentlichen Dienst. Unter den aktuellen Einschränkungen musste die Urkunde postalisch übergeben werden. Ein E-Mail-Interview aus dem Home-Office:

Herr Winter, wo sind Sie aufgewachsen?

In Niedersachsen zwischen Braunschweig und Wolfsburg: Erst Zonenrandgebiet und nach der Wende dann aber mittendrin in Deutschland; zudem spricht man in Niedersachsen angeblich das klarste Hochdeutsch.

Wie verlief Ihr beruflicher Werdegang?

Abitur in Braunschweig, Zivildienst in der Altenpflege, ein Jahr Aupair in Paris, Freiwilliges Soziales Jahr in der Altenpflege, Ausbildung zum Altenpfleger und Berufstätigkeit als solcher, 1991 Beginn des Studiums der Pflegepädagogik an der Berliner Charité (erste Kohorte nach der Wende – super spannend und ein ganz anderes Berlin als heute), Berufstätigkeit als Pflegepädagoge, Stipendiat der Robert Bosch Stiftung (für die Dissertation), pflegewissenschaftliche Promotion an der Charité (Dr. rer. cur. – neu erfunden und trotzdem kein Kurarzt, wie ältere Menschen häufig denken :-).

Was waren Ihre beruflichen Stationen, bevor Sie als Professor an die RWU gekommen sind?

Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Charité, der Fachhochschule Braunschweig-Wolfenbüttel, der Martin-Luther-Uni Halle Wittenberg bzw. der Stiftung Leucorea Lutherstadt Wittenberg und wieder zurück an die Charité und dann an die RWU.

Was hat Sie dann dazu bewogen, in die Lehre zu gehen?

Die Frage trifft bei mir nicht ganz zu, da ich ja nicht aus der Wirtschaft komme und Lehre auch als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu meinen Tätigkeiten zählte (an der Charité waren es angehende Ärzte*innen). Zudem bin ich ja von Hause aus Lehrer für Pflege (Pflegepädagoge).

Wann genau sind Sie an der RWU gestartet und wie sind Ihre Erinnerungen an diesen Anfang?

Im Wintersemester 2006/2007 zunächst im Studiengang Pflegepädagogik und als Leiter des dortigen Praxisamtes.

Irgendwie hatten die Gebäude der RWU damals noch stark den Charakter einer Kaserne. Und dann meine große Verwunderung darüber, dass auch junge Menschen stark Dialekt sprechen (im Norden sprechen nur noch alte Menschen Plattdeutsch). Im ersten Semester habe ich die Studierenden kaum verstanden und dann halt des Öfteren nach Wortmeldungen gefragt, was die anderen Studierenden dazu sagen, so dass sie wenigsten untereinander in Kontakt kamen. Zudem musste ich halt erst lernen, dass ein Teppich auch eine Wolldecke und ein Kittel auch eine Jacke sein kann.

Darüber hinaus fand ich (aus Berlin kommend) damals die Mieten und auch Lebenshaltungskosten hier recht hoch und sowieso alles total proper (kein Müll, keine Graffitis, keine Obdachlosen auf den Straßen usw.). Bei der Wohnungssuche wurde ich vor sogenannten sozialen Brennpunkten gewarnt von Menschen, für die wahrscheinlich ganz Berlin ein solcher Brennpunkt war oder immer noch ist.

Zum Probevortrag war ich von Berlin nach Stuttgart geflogen und hatte dann einen Mietwagen genommen: Diese Fahrt (quasi ans Ende der Welt) werde ich auch nie vergessen, weil sie kein Ende nehmen wollte und mir zudem kaum jemand begegnet ist auf der B 30; dafür dann aber bei der Einfahrt nach Weingarten die übermächtige Basilika.

In der RWU fand ich zunächst die Seminarräume doch recht schulisch bzw. habe die riesengroßen, teils ja historischen Hörsäle der Charité anfangs schon vermisst. Irgendwie schwingt in Räumen, in denen man sich befindet oder arbeitet, ja auch immer ihre Geschichte mit.

Welche großen Veränderungen sind seither an der Hochschule passiert?

In den 14 Jahren an der RWU gab es recht viele personelle Veränderungen, d. h. Kollegen*innen, die weg gingen, sogar starben und andere die neu hinzukamen. V. a. meine Fakultät (Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege) ist stark gewachsen sowohl personell als auch in ihrem Portfolio.

Das A-Gebäude ist inzwischen zweimal renoviert, wir haben keine Pflegepädagogik mehr dafür aber die Pflege als Studiengang, den ich seit fast zehn Jahren leiten „darf“; jetzt noch das neue Pflegelabor und ganz abgesehen von allen coronabedingten Veränderungen, die ja auch schon fast zwei Semester andauern.

Was sind wichtige nächste Schritte in Bezug auf Ihren Fachbereich?

Die Reform der Ausbildung in den Pflegeberufen, die zum Januar 2020 in Kraft getreten ist, stellt einen historischen Meilenstein für Deutschland dar und muss in den nächsten Jahren mit Leben gefüllt werden.

Dies betrifft auch unseren Studiengang, der sich (zwar mit einer langen Übergangsfrist) hin entwickeln muss zu einem sogenannten primärqualifizierenden Studiengang, in dem dann das Pflegeexamen (d. h. die Berufszulassung) Bestandteil der Bachelorprüfung sein soll.

Folglich ist die Hochschule dann irgendwann auch komplett verantwortlich für die klinische/pflegepraktische Ausbildung der Studierenden (ähnlich dem Medizinstudium) und dies ganz ohne eine kooperierende Pflegeschule, dafür aber mit einem Konsortium von Praxiseinrichtungen.

Hinzu kommt das Pflegelabor, in dem dann in geschütztem Rahmen klinische Skills geübt werden sollen. Dazu braucht es nicht nur didaktische Konzepte, sondern auch deutlich mehr Personal als jetzt, d. h. Verhandlungen mit dem Sozialministerium (Aufsicht über die Pflegeausbildung) und dem MWK, was sicher eine Besonderheit des Studiengangs ist und nicht ganz einfach wird.

Allerdings hängt vom Gelingen dieser Umstellung durchaus die Zukunftsfähigkeit des Studiengangs ab und nicht zuletzt ein Stück weit auch die pflegerische Versorgung in der Region.

Ein großes Manko ist sicher, dass es in Deutschland bislang weder pflegeakademische Lehrkrankenhäuser oder Altenheime noch Pflegeambulanzen gibt, so dass wir als RWU keinen direkten Zugriff haben auf bettenführende Einrichtungen oder, anders ausgedrückt, unsere Patienten*innen immer irgendwo anders sind. Dies ist an medizinischen Fakultäten natürlich ein deutlich kleineres Problem.

Des Weiteren wird es in unserem Institut für Gerontologische Versorgungs- und Pflegeforschung (IGVP) darum gehen müssen, immer wieder neue Anträge zu schreiben, um die dortigen Stellen abzusichern, die ja immer nur befristet sind. Leider scheint unser Forschungsgebiet nicht besonders „sexy“ – bzw. politisch eher ein heißes Eisen zu sein, da es immer auch um politisch gewollte (oder nicht gewollte) Versorgung geht, die dann ja im positiven Fall auch etwas kostet, und dies in der Regel zulasten der Versicherten/Steuerzahler*innen geht, womit man sicher keinen Wahlkampf bestreiten will. Insofern sind wir mehr denn je gefordert, den Dialog mit politisch Verantwortlichen fortzusetzen und dies auf allen Ebenen (Bund, Land, Kommunen).

Was motiviert Sie, in der Forschung so aktiv zu sein?

Forschung (man sieht es ja gerade an Corona) scheint mir immer noch der beste Versuch des Menschen, die ihn umgebende Wirklichkeit zu verstehen und sie dann entlang dieser Erkenntnis positiv zu verändern.

Darüber hinaus ist mein Forschungsgegenstand (Pflege und Versorgung im Alter) ja sehr lebensnah und betrifft quasi uns alle mehr oder weniger bzw. früher oder später. Insofern forsche ich auch ganz eigennützig in der Hoffnung, irgendwann mal (wenn ich es benötige) eine bessere Pflege zu erfahren als sie heute stattfindet.

Zudem bieten ja alle Forschungsprojekte Weiterqualifizierungsmöglichkeiten für unseren akademischen Nachwuchs. Hier fühle ich mich angesichts meines eigenen Werdegangs irgendwie auch verpflichtet, etwas zurückzugeben.

Ferner geht es bei unserer Forschung immer auch darum, zu hinterfragen, was genau bei den Betroffenen ankommt. Damit unterscheiden wir uns erheblich von anderer Forschung, die Dinge entwickelt, welche unter Umständen niemand braucht. Ich denke, hier sind staatlich finanzierte Hochschulen in besonderer Weise gefordert, ihre Forschungsfragen immer auch am Gemeinwohl auszurichten und ihre Erkenntnisse mit der Bevölkerung zu diskutieren.

Im Übrigen halte ich das Modell Hochschullehrer*in in Deutschland für nahezu anachronistisch: Die sogenannte „Dreifaltigkeit“ (Lehre- Forschung- Selbstverwaltung) ist in weiten Teilen weltfremd, da nicht alle gute Lehrenden auch automatisch gute Forscher*innen sind sowie vice versa und dies im Übrigen auch gar nicht sein müssen. Insofern fände ich Regelungen wie bspw. in den Niederlanden gut, weil hier die Stellen jeweils forschungs- oder lehrintensiv besetzt werden.

Welche weiteren Aufgaben und Ämter haben oder hatten Sie zusätzlich zur Professur und Studiengangsleitung an der Hochschule inne?

Von 2014 bis 2018 war ich Dekan der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege. Und ich war lange Zeit Mitglied des Senates teils als Dekan und teils als gewähltes Mitglied in der Gruppe der Profs.

Was macht Ihnen Freude?

Was für eine Frage in diesen Zeiten …

Aktiv an der persönlichen und fachlichen Entwicklung der Studierenden im Rahmen ihres Studiums beteiligt zu sein und ihre Entwicklung mitzuerleben.

Zu erleben, wie aus meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im IGVP über die Zeit engagierte Wissenschaftler*innen werden (inkl. Promotion).

Mit engagierten Menschen an der pflegerischen Versorgung der Zukunft zu arbeiten jenseits bestehender Grenzen und Regularien (auch in unseren Köpfen): Mit den Konzepten von heute werden wir die pflegerischen Probleme von Morgen kaum lösen können. Sie erweisen sich ja bereits jetzt an vielen Stellen als nicht besonders tragfähig bzw. nachhaltig.

Hotelzimmer mit Meerblick.

Plattes Land, wo man mittwochs schon sieht, wer samstags zu Besuch kommt :-)

Zwei spanische Fund- bzw. Straßenhunde, die ihre Traumata mehr und mehr überwinden und anstelle dieser ganz eigene Marotten entwickeln.

Und vieles mehr, was hier nicht interessiert … :-)

Was machen Sie in Ihrer Freizeit?

Zwei Wohnsitze bewirtschaften und leben; lange Spaziergänge und Sport mit meinen zwei Hunden und Mann; Cabriofahren samt Hunden; Gärtnern auf der Terrasse; Reisen und last but not least schreiben (auch jenseits der Wissenschaft), denn wer schreibt, der bleibt.

Weingarten oder Berlin?

Ich bin froh und dankbar, mir derzeit noch den Luxus beider Standorte leisten zu können (mit der Pension muss dann sicher eine Entscheidung getroffen werden). Wobei ich mich hier in Weingarten manchmal nach Berlin sehne, und wenn ich dort bin nach ein paar Tagen die Ruhe und Überschaubarkeit hier schon wieder vermisse und zurück will.

Allerdings bin ich offensichtlich (mit Ausnahme des Dialektes) hier in Oberschwaben schon recht gut sozialisiert, da ich, laut meiner Berliner Freunde, dort wohl keine Gelegenheit auslasse, um darauf hinzuweisen, wie wir hier (in Oberschwaben) das alles so machen bzw. „bei uns vieles ganz anders ist“.

Wie würden Sie sich selbst Ihre eigene Pflege wünschen, sollten Sie einmal pflegebedürftig sein?

Naja, schwierige Frage; zumal auch etwas unpräzise, da Pflegebedürftigkeit ja in erster Linie ein sozialversicherungsrechtlicher Terminus ist, der wenig über die jeweilige Situation aussagt. Von daher müssten Sie mich ja erst mal fragen, welche Art von Pflegebedürftigkeit mir denn so vorschwebt.

Natürlich will ich, genau wie alle anderen, so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden leben und dort am besten auch sterben im Kreise meiner Lieben inkl. der Hunde auf meinem Sterbebett und Blick nach draußen möglichst aufs Meer …

Andererseits hänge ich nicht an irgendwelchen vier Wänden und würde auch in ein Heim gehen, wenn es denn meinen Vorstellungen entspricht (W-LAN?, Hotelservice? Haustiere? usw.). Einzelzimmer ist ja jetzt schon mal Standard geworden, gesetzlich verordnet.

Ein langes Leben (jenseits von 80) ist bislang ohne Verluste, Einbußen und auch Leiden nicht in Sicht. Bei allem, was es für uns bereithält (Krebs, Erblindung, Schlaganfall, Immobilität usw.), bin ich gar nicht abgeneigt, Demenz als neue Daseinsform im hohen Alter anzunehmen: For ever young, in meiner eigenen Welt und zumeist am Anfang ja körperlich noch recht mobil …

Es käme dann jedoch sehr auf das Versorgungssetting drauf an, in dem ich mich befinde bzw. dass es zu wählen gilt (Demenzdorf, klassisches Heim, WG oder was auch immer). Und daran, dass solche Ideen vermehrt entstehen, habe ich ja dann auch schon mein Leben lang gearbeitet, so dass sich irgendwie auch ein Kreis schließen würde.

Text:
Christoph Oldenkotte