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Corona - Was geht

"Es ist wichtig, dass wir die Situation annehmen"

Prof. Dr. Silvia Queri

Die RWU steht auch in diesen außergewöhnlichen Tagen und Wochen nicht still. An vielen Stellen wird mit Engagement und Kreativität an neuen Lösungen gearbeitet. Mit der Reihe „Corona – Was geht“ möchten wir den Blick nicht nur auf das richten, was derzeit nicht möglich ist, sondern gerade auch auf das, was geht.

Die Corona-Pandemie hat das Leben der meisten Menschen stark verändert. Welche Auswirkungen hat die Krise auf die Psyche von Individuen und auf unsere Gesellschaft? Nachgefragt bei Professorin Dr. Silvia Queri, Leiterin des Studiengangs „Angewandte Psychologie“ an der RWU.

Monika Zieher: Was macht die Corona-Krise mit den Menschen, was löst sie in uns aus?

Professorin Dr. Silvia Queri: Was sie konkret mit über 80 Millionen Deutschen macht, kann man natürlich nicht mit Bestimmtheit sagen – mit jedem Menschen wahrscheinlich etwas anderes, wir sind ja alle individuell. Aber man kann insofern verallgemeinern, dass die Situation großes Potential hat, uns unter Stress zu setzen. Sehr wahrscheinlich sogar löst sie bei vielen von uns eine Stresssituation aus mit den damit verbundenen körperlichen, emotionalen und sozialen „Symptomen“ wie Unruhe, Schlafstörungen, Angstzuständen und sozialem Rückzug oder vermehrten sozialen Konflikten.

Warum ist das so? Die Stressforschung hat gezeigt, dass zwei spezifische Beurteilungen, die nacheinander erfolgen, zu Stress führen: zum einen die Beurteilung der Situation als bedrohlich – und hier haben wir es sogar mit einer lebensbedrohlichen Situation zu tun, zum anderen die Beurteilung, ob und was ich dem entgegensetzen kann, also welche Bewältigungsmöglichkeiten ich habe. Auch diese zweite Beurteilung fällt extrem schlecht aus, da wir es hier mit einem unsichtbaren Feind zu tun haben, was ohnehin die Angst verstärkt und weil wir faktisch kaum etwas über ihn wissen ­– aktuell ja noch nicht einmal, ob wir wirklich immun sind, wenn wir die Infektion einmal durchgestanden haben. Deshalb kann man davon ausgehen, dass Corona bei vielen Menschen eine Stressreaktion auslöst, auch wenn sie sonst nicht dazu neigen. Die Stressforschung hat mittlerweile gut belegt, wie gesundheitsgefährdend vor allem Dauerstress ist, so wie wir ihn jetzt ja haben und ein Ende ist noch nicht in Sicht. Das betrifft übrigens nicht nur die psychische, sondern auch die körperliche Gesundheit.

Ein Punkt ist auch, dass wir das nach einer extrem langen Zeit des Friedens und des Wohlstandes erleben. Das führt dazu, dass wir die aktuelle Situation so extrem schlimm empfinden, weil wir das Risiko einer solchen Krise gar nicht „auf dem Schirm“ hatten. Historische Befunde zur Spanischen Grippe, zum Beispiel Analysen von Tagebüchern und privaten Briefen, zeigen, dass die Menschen kurz nach dem Ersten Weltkrieg diese Pandemie gar nicht erwähnenswert fanden.

Führen die mangelnden sozialen Kontakte, die soziale Isolation, die Angst zu einem gestiegenen Bedarf an psychologischer Betreuung?

Ich bilde Psychologinnen und Psychologen aus und müsste hier natürlich ja sagen, aber der Mensch hat auch eine „intuitive Psychologie“ als phylogenetisches Erbe von unseren Vorfahren mitbekommen und viele (psychisch gesunde) Menschen reagieren von selbst psychologisch richtig. Dazu möchte ich den Unterschied zwischen Angst und Frucht, wie wir ihn in der Psychologie machen, erläutern: Angst ist ein pathologischer Zustand, Furcht dagegen ist wohl das, was jetzt die meisten psychisch gesunden Menschen erleben. Furcht ist eine der sogenannten Basisemotionen, die sich in der Entwicklung des Menschen als adaptiv für sein Überleben erwiesen haben. Hätte der Urmensch keine Furcht gekannt und wäre nicht vor wilden Tieren davongelaufen, wären wir alle nicht hier.

Furcht vor Corona zu haben, ist also überlebenswichtig und erst einmal nicht pathologisch. Emotionen sind vor allem überlebenswichtig, weil sie handlungssteuernd sind ­– vor dem wilden Tier weglaufen zum Beispiel. Sie „sagen“ uns quasi, was zu tun ist und das schon bevor sich der Cortex einschaltet, also das rational-bewusste Urteil über eine Situation als zum Beispiel „gefährlich“ entsteht. Die Furcht vor Corona war also wichtig und notwendig, dass konsequent gehandelt und die Mehrheit sich an die Einschränkungen gehalten hat. Deshalb war die klare Ansage des RKI oder der Experten, dass es sich um eine sehr gefährliche Pandemie handelt und nicht vergleichbar mit der normalen Grippewelle ist, absolut richtig, weil an die Grippe haben wir uns gewöhnt, da haben wir keine Furcht mehr davor.

Und übrigens auch der soziale Ansteckungseffekt von Furcht, der uns die Hamsterkäufe beschert hat, gehört zu unserem phylogenetischen Erbe: Der Urmensch hat sich zu Gruppen zusammengetan, weil das fürs Überleben besser war und dadurch haben wir die Orientierung an anderen entwickelt. Wir prüfen stets, wie sich die anderen verhalten, um daraus „abzulesen“, was gerade passiert bzw. ob es auch für uns relevant ist. Dass wir im Zustand der Furcht erst einmal Vorräte anlegen, halte ich auch nicht per se für pathologisch, sondern angesichts der unsicheren Prognosen und vielen Unbekannten für eine adaptive Reaktion. Dass es dann Gerangel um Produkte und Beschimpfungen von Supermarktpersonal gibt, ist damit aber natürlich nicht gerechtfertigt.

Welche Auswirkungen hat die Situation auf Menschen, die bereits an einer psychischen Erkrankung leiden? Gibt es hier an die Situation angepasste Angebote, zum Beispiel Therapiesitzungen via Video-Chat oder Telefon?

Bezugnehmend auf die Frage zuvor, ob der Bedarf an psychologischer Betreuung gestiegen ist, kann man sagen, dass diese immer dann erst notwendig ist, wenn Menschen überdurchschnittlich darunter leiden, also zum Beispiel Angst statt Furcht erleben und/oder keine Bewältigungsstrategien in dieser Stresssituation entwickeln können. Und das könnten vor allem Menschen sein, die psychisch bereits krank sind. Es gibt aber interessante Befunde, dass in Zeiten äußerer Krisen wie zum Beispiel Krieg die Anzahl der psychischen Erkrankungen rückläufig ist. Um diese Frage für die derzeitige Krise zu beantworten, müssten Sie in den Psychiatrien bzw. bei den niedergelassenen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten oder Psychiaterinnen und Psychiatern nachfragen. Therapien finden derzeit bereits per Telefon oder Videotelefon statt, das gab es aber bereits vorher und dazu liegen auch Evaluationen vor. Grob gesagt, es funktioniert – viele Patientinnen und Patienten bevorzugen aber den „echten“ Kontakt“.

Gibt es Strategien, um die soziale Isolation erträglicher zu machen? Was raten Sie, um in der Krise positiv zu bleiben?

Ja, hier gibt es viele gute Strategien, die – wie gesagt – auch die meisten Menschen „intuitiv“ selbständig ohne psychologische Hilfe von außen anwenden bzw. entwickeln im Laufe der Krise. Als erstes ist wichtig, dass wir die Situation annehmen. Das klingt zwar hilflos, ist es aber nicht. Dinge, die wir nicht ad hoc ändern oder lösen können, müssen wir erst einmal akzeptieren. Von zentraler Bedeutung ist dann der Faktencheck oder die genaue Analyse der Situation: Was wissen wir über dieses Virus, wie kann man sich schützen, was ist zu tun? Dabei kommt es darauf an zu prüfen, ob wir etwas aktiv tun können, also überhaupt die Kontrolle über den Verlauf der Geschehnisse haben oder nicht. Im ersten Fall sollten wir dann auch handeln, also die empfohlenen Maßnahmen umsetzen. Im zweiten Fall können wir auch etwas tun, aber nicht direkt Einfluss auf die Geschehnisse nehmen, sondern auf unsere (Stress-)Reaktionen: Entspannungstechniken helfen hier oder sich bewusst schönen Dingen zuzuwenden, zum Beispiel sich einen schönen Film ansehen und nicht nur die aktuellen Beiträge zu Corona, die modernen Medien nutzen und Freunde per Videoanruf kontaktieren. Der Mensch ist ein „social animal“, also auf den Kontakt mit anderen angewiesen für sein Überleben und Wohlbefinden. Auch die Zukunft zu planen nach Corona ist hilfreich, verschafft Orientierung und macht klar, dass es diese Zeit geben wird. Menschen, die nicht so strukturiert sind und jetzt im Homeoffice arbeiten oder schlimmstenfalls arbeitslos sind, sollten sich einen Tagesablauf festlegen, auch an die vorübergehende Übernahme eines Ehrenamtes kann man denken.

Man kann die Zeit auch nutzen, um einmal grundsätzlich darüber nachzudenken, ob man noch auf dem „richtigen Gleis“ fährt, also möglicherweise Veränderungen notwendig sind oder einen Zuwachs an Lebensqualität bringen könnten. Solche erzwungenen „Ruhepausen“ haben in jedem Fall Veränderungspotential, weil uns nicht ständig der Alltag von der Selbstreflexion abhält. Das soll jetzt aber auch nicht zu positiv klingen, denn Selbstreflexion ist häufig sehr schmerzhaft, zum Beispiel schätze ich, wird nicht nur die Geburtenrate steigen wie viele vorhersagen, sondern auch die Scheidungsrate, weil Paare jetzt Zeit haben, sich intensiver mit ihrer Paarbeziehung auseinanderzusetzen. Aber das ist Spekulation, da müssen wir in einem Jahr sehen, was wirklich passiert ist.

Sehen Sie langfristige Folgen für unsere Gesellschaft? Rücken die Menschen eher näher zusammen oder werden die Menschen in der Krise egoistischer?

Ersteres ist ein Wunsch, den ich von vielen Seiten höre. Auch hier kann ich nur sagen, das müssen wir uns nach der Krise ansehen, alles andere ist Spekulation. Wir dürfen uns hier aber keinen sozialromantischen Vorstellungen hingeben. War das nach der Finanzkrise so oder den Weltkriegen? Wenn ich die Prognosen mancher Zukunftsforscher lese, die so etwas andeuten, also eine totale Veränderung unseres Wirtschaftssystems hin zur Gemeinwohlökonomie zum Beispiel oder endlich die Rettung unseres Klimas aufgrund der Erkenntnisse aus Corona, so will ich das gerne auch glauben, aber ich sehe – ehrlich gesagt – im Applaus für die Mitarbeiter des Gesundheitswesens und den Balkonkonzerten noch keine belastbaren Indizien dafür.

Menschen reagieren auf veränderte Bedingungen und wenn die Bedingungen Solidarität fordern, sind wir dazu auch in der Lage. Wenn die Bedingungen sich aber wieder den vorherigen annähern, bleiben wir schon eine eher individualistische Gesellschaft und fallen wahrscheinlich in unsere alten Verhaltensweisen zurück. Aktuelles Verhalten lässt sich am besten aus früherem Verhalten vorhersagen. Hier müssten jetzt – und die Chance sehe ich schon – die verantwortlichen Politiker die Weichen für eine Veränderung stellen, also zum Beispiel die finanziellen Zuschüsse für die Industrie nur in umweltfreundliche Projekte geben und nicht wie in der Finanzkrise in Straßenbau und Abwrackprämie für Autos oder eine adäquate Bezahlung im Sozial- und Gesundheitsbereich und nicht nur vorübergehende Gefahrenzulagen.

Krise als Chance? Welche positiven Effekte kann die Corona-Krise auf uns als Individuum und auf unsere Gesellschaft haben?

Das alles ist jetzt aus meiner Sicht gerade ein gigantisches sozialpsychologisches Experiment, an dem wir alle teilnehmen. Hier werden gleich mehrere zentrale psychologische Grundmotive beeinträchtigt: Das Bedürfnis nach Kontrolle, sozialem Kontakt und Vorhersagbarkeit. Die Ergebnisse sind sicherlich interessant und müssen aufgearbeitet werden. Ich bin zuversichtlich, dass das viele Kolleginnen und Kollegen auch tun werden.

 

News & FAQ zum Umgang mit Corona an der RWU

 

Text:
Professorin Dr. Silvia Queri / Monika Zieher