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Early Night Social Talk

„Ermittlungen sind wie Mosaike“

ENST Spendenübergabe
V.l.n.r.: Dr. Richard Heil, Claudia Gosner (Studentin Soziale Arbeit), Uwe Stürmer (Präsident Polizeipräsidium Ravensburg), Florian Nägele (Streetwork MISA Arkade e.V.), Andreas Stenger (Präsident Landeskriminalamt Baden-Württemberg), Prof. Dr. Michael Pfeffer (Prorektor RWU), Prof. Dr. Julia Wege (Soziale Arbeit RWU).
Quelle:
Christoph Oldenkotte

„Das perfekte Verbrechen gibt es – nicht“, so die Aussage von Uwe Stürmer, Präsident des Ravensburger Polizeipräsidiums. Gemeinsam mit seinem Stuttgarter Kollegen Andreas Stenger, Präsident des Landeskriminalamts Baden-Württemberg, gaben die beiden Einblicke in die Arbeit von Kommissaren, Mordermittlern, Kriminaltechnikern und Co. Im Gespräch mit Professorin Dr. Julia Wege wurde über Opferbetreuung sowohl als Teil von Polizei- als auch von Sozialer Arbeit gesprochen. Der Vortrag, der unter dem Motto „Kriminalität im Wandel“ stand, war Teil der Veranstaltungsreihe Early Night Social Talk, die von der Fakultät für Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Ravensburg-Weingarten (RWU) organisiert wird.

Interdisziplinäre Arbeit – Verzahnung von Wissenschaft und Technik

Zunächst klärt Stürmer das Publikum auf, warum Fernsehkommissare, wie sie beispielsweise im bekannt-beliebten Tatort gezeigt werden, in der Realität scheitern würden: Als Einzelgänger ist es einem Kommissar oder einer Kommissarin unmöglich, einen Fall in kurzer Zeit zu lösen. „Solche Klischees sind unterhaltsam“, gibt Stürmer zu, „sie haben jedoch wenig mit der Realität zu tun.“ Ermittlungen und Aufklärungsarbeit setzen ein großes und interdisziplinäres Team voraus, das in alle Richtungen gleichzeitig ermittelt – was tatsächlich keine bloße Floskel ist. Ermittlungsarbeit ist vor allem kriminaltechnische Datenarbeit: Erhebung und Dokumentation, Auswertung und Analyse – seien es digitale oder molekulare, toxikologische oder DNA-Spuren, Schuhsohlen, Blätter von Bäumen oder andere Mikro- und Faserspuren.

Im Vergleich zu dieserart Spuren, die niemals lügen, da sie objektiv sind, sind Zeugenaussagen stets subjektiv und müssen bis ins Detail überprüft werden. Die Ermittler sind dabei immer auf der Suche nach Widersprüchen, um Täter überführen zu können. Dennoch werden Fälle heutzutage meistens auf der Grundlage von kriminaltechnischen Erkenntnissen und Beweisen aufgeklärt. Durch die verschiedenen Hinweise „kommt ein Mosaikstein zum anderen“, vergleicht es Uwe Stürmer. Mithilfe von modernsten kriminaltechnischen Methoden gelingt es, 94 Prozent der jährlichen ca. 200 Mordfälle in Deutschland aufzuklären, erläutert Andreas Stenger.  

Die Locard’sche Regel

Stenger schildert einige Beispiele aus seinen über 40 Jahren bei der Polizei. „Die Locard’sche Regel gilt dabei immer“, resümiert er. „Zwei Objekte können nicht aneinander vorbeikommen, ohne dass sie gegenseitig Spuren an sich hinterlassen.“ Anhand der beispielhaften Fälle zeigt Stenger, der selbst einmal Leiter des Kriminaltechnischen Instituts beim LKA war, verschiedene kriminaltechnische Methoden auf: Im Fall einer vergewaltigten Freiburger Studentin wurde beispielsweise innerhalb von sieben Wochen ein komplettes Gebüsch abgetragen und mikroskopisch untersucht – mit Erfolg! Die Ermittler fanden ein ca. 20 Zentimeter langes Haar, womit sie schließlich den Täter ausmachen konnten. Sieben Wochen scheinen für Laien eine lange Zeit zu sein, doch in den Augen der Ermittler kam man schnell zum Erfolg, zumal die anfängliche Beweislage ziemlich spärlich war.

„Gründlichkeit geht immer vor Schnelligkeit“, betont der LKA-Präsident. Zeit ist dennoch ein wichtiger Faktor bei Ermittlungen, denn je mehr Zeit verstreicht, bis der Täter gefasst wird, desto höher wird der (öffentliche) Druck. Außerdem können Spuren verwischt werden und das Erinnerungsvermögen der Zeugen schwindet zunehmend.

Cybercrime im Darknet

Grundsätzlich gilt es, zwischen Fundort und Tatort zu unterscheiden, da diese nicht zwingend übereinstimmen müssen. Früher war der Tatort meist der Ausgangspunkt der Ermittlungen. Heutzutage, in Zeiten zunehmender Digitalisierung und Cybercrime kann ein Tatort überall sein – draußen in der Natur oder virtuell im Netz. Eine weitere Veränderung geht damit einher: Der Täter muss bei Cybercrime-Angriffen nicht physisch vor Ort sein, er kann sich überall auf der Welt befinden und von dort aus agieren und angreifen.

Daher ist es besonders wichtig, seine persönlichen Daten auch im digitalen Umfeld zu schützen. Die Anzahl der Straftaten in Baden-Württemberg aus dem Jahr 2021 befinden sich zwar auf einem sehr niedrigen Stand, die Taten im digitalen Dunkelfeld nehmen jedoch zu. Um dem entgegenzuwirken, hat das LKA bereits im Jahr 2012 die Abteilung Cybercrime und Digitale Spuren gegründet, die sich mit Kriminalität im Netz auseinandersetzt.

Digitalisierung ist Risiko und Chance zugleich. Denn, so konstatiert Stenger in diesem Kontext: „Wo wir auch gehen und stehen, hinterlassen wir digitale Spuren, sei es mit unseren Smartphones oder mit unseren Autos.“ Diese digitalen Spuren eröffnen gleichzeitig neue Möglichkeiten, zum Beispiel bei der Kontaktnachverfolgung. Außerdem bietet die Digitalisierung vor allem in den Bereichen Dokumentation, Datenbanken und Kriminaltechnik enorme Vorteile und ermöglicht große Fortschritte – ganz nach dem Motto: „Kriminalität im Wandel“.

Opferbetreuung – Polizeiarbeit und Soziale Arbeit  

Im Anschluss an die Vorträge der beiden Polizeipräsidenten findet eine offene Gesprächsrunde statt. Professorin Dr. Julia Wege kommt im Kontext ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit im Bereich der Sozialen Arbeit auf das Thema Opferbetreuung als Teil der Polizeiarbeit zu sprechen. Bei ihrer Antwort sind sich die beiden Polizeipräsidenten einig: Opferbetreuung ist ein elementarer Bestandteil von Polizeiarbeit und genauso wichtig wie die eigentlichen Ermittlungen. Opfer von Verbrechen befinden sich in Ausnahmesituationen, sind äußerst sensibel und haben gleichzeitig ein großes Bedürfnis nach Informationen und Aufklärung. Daher ist es vonseiten der Polizei wichtig, realistisch zu informieren. Aufgrund ihrer Vulnerabilität müssen manche Opfer langfristig betreut und geschützt werden, da es teilweise zur sogenannten Täter-Opfer-Umkehr kommen kann. Dies wird beispielsweise durch den kriminalpsychologischen Einsatzdienst ermöglicht.

Opferbetreuung ist ebenfalls Teil von Sozialer Arbeit. Claudia Gosner, Studentin der Sozialen Arbeit an der RWU, absolviert zurzeit ihr Praxissemester bei der Arkade e.V., einer Beratungsstelle für Menschen in Not. Sie ist Teil eines Teams, das Sexarbeiterinnen berät, Hilfe vermittelt und bei beruflicher Neuorientierung begleitet. MISA Streetwork leistet neben Beratungsarbeit auch Aufklärungs- und Präventionsarbeit. „Wir sind da, helfen und unterstützen die Frauen“, berichtet Gosner enthusiastisch von ihrer Arbeit.

10.000 € Spendengelder für Beratung, Prävention, Forschung und Förderung

Ein zweites Highlight neben dem Vortrag der beiden Polizeipräsidenten bildet die abschließende Spendenübergabe: Dr. Richard Heil aus Mannheim spendet der Arkade e.V. und der RWU insgesamt 10.000 Euro, die zum einen in Beratungsarbeit und Nothilfe, zum anderen in Forschung und die Förderung von wissenschaftlichem Nachwuchs im Studiengang Soziale Arbeit investiert werden sollen. Das Thema Soziale Arbeit soll nicht nur in Weingarten, sondern in der ganzen Gesellschaft sichtbarer und verankert werden. Prorektor Professor Dr. Michael Pfeffer bedankt sich im Namen der RWU bei Richard Heil für dessen großzügige Spende und würdigt: „Ohne Persönlichkeiten wie Dr. Heil wären viele Dinge nicht möglich.“

Zum Schluss ergreift Richard Heil selbst das Wort: „Ich möchte Sie alle dazu ermutigen, engagiert zu sein, zu hinterfragen und sich aktiv einzubringen.“ Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter werden in allen denkbaren Bereichen der Gesellschaft gebraucht. Allen voran sind Frauen als Betroffene zu nennen: Sie machen 50 Prozent der deutschen Bevölkerung aus. In Deutschland wird jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt. Etwa jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder durch ihren früheren Partner. „Unser aller Ziel sollte es sein, die Freiheit vor allem von Frauen zu schützen und die Gesellschaft für jeden und jede zu einem sicheren Ort zu machen“, so Heils Schlussworte, die mit Beifall gewürdigt wurden. 

 

Text:
Lisann Gauß